Zwischenwelten – Eröffnungsrede von Günther Oberhollenzer

Gotthard Bonell — Zwischenwelten
Freitag, 19.11.2021, Alessandro Casciaro Art Gallery

Eröffnungsrede von Günther Oberhollenzer


Gotthard Bonell ist ein Maler mit authentischer Leidenschaft und ungemeinen Schaffensdrang. Immer wieder aufs Neue lotet er die vielfältigen Möglichkeiten des malerischen Ausdrucks aus, bewegt sich mit spielerischer Leichtigkeit am schmalen Grat zwischen Figuration und Abstraktion. Seine malerischen und zeichnerischen Techniken zeugen von altmeisterlicher Könnerschaft, sind aber auch offen für künstlerische Experimente. Mit unverwechselbarer Handschrift erschafft Bonell eine Welt, die sich intim und emotional berührend, aber auch rätselhaft und verstörend mit Grundfragen der Kunst und des menschlichen Seins auseinandersetzt.

Ausgangspunkt der neuen Arbeiten bildet die Naturlandschaft, insbesondere massive Gebirgsformationen, ebenso wie vielfältige Körperformen und Fundstücke. Berge erscheinen in flirrend atmosphärischen Lichtstimmungen und die unmittelbare Naturerfahrung ist spürbar, auch wenn die Ansichten oft keine weiträumigen, romantischen Panoramen bieten. Nah an uns herangezoomt werden die Felsen zu einer abstrahierten malerischen Geste. Der Künstler erfreut sich an der unerschöpflichen Farben- und Formenvielfalt der Natur, geeignete Kulisse für sein virtuoses Spiel mit Licht und Schatten mit Schichten und Strukturen. Dabei arbeitet er bisweilen wie ein Bildhauer, erschafft pastöse, reliefartige Oberflächen. Meist verschwimmen aber (Natur-)Landschaften mit Stillleben aus (verwesenden) Körperformen.

Der figurative Gegenstand verselbstständigt sich, erfährt eine Metamorphose und wird zu einer neuen Form, die nicht leicht fass- oder beschreibbar ist. Unter der Haut liegende Schichten werden freigelegt, Schädel und fragmentierte Skelette erscheinen wie innere Landschaften, zart und verwaschen, rätselhaft und bedeutungsschwer. Komponiert in gedämpften Farben, getaucht im Sfumato einer weichen, nebligen Atmosphäre lässt uns der Künstler im Ungewissen, ob sich die Motive auflösen oder vielleicht doch neu zusammensetzen. Zeichnung und Malerei begegnen sich dialogisch, aber auch konfrontativ, bisweilen tauchen verstärkt collagierende Elemente – etwa Schnipsel aus Modezeitschriften – auf, Seidenpapier wird in feinen Schichten auf die Holzplatte geklebt und künstlerisch bearbeitet. Bonell experimentiert mit Asche und verschiedenen Pigmenten, bügelt das Papier, sodass es wie Pergament oder Haut aussieht. Vieles entwickelt sich während des Arbeitsprozesses, der Künstler lässt sich treiben, von dem Entstehenden, den Linien und Strukturen, die sich finden lassen, leiten. Zeichnen, wegwischen, überkleben, weitermalen.

Lange Zeit hat die Malerei das Monopol auf das große, farbige und wirkungsmächtige Bild. Dann wird sie von der Fotografie als neuem Leitmedium des Bildes abgelöst. Dennoch bleibt die Malerei bis weit in das 20. Jahrhundert das unumstrittene Hauptmedium der Kunst. In den letzten Jahrzehnten hat sich das aber nachhaltig verändert. Die Wahrnehmung der Welt ist multimedial geworden. Auch in der Kunst. „Die hegemoniale Situation des Mediums zwingt den Künstler, mit jedem Werk auch Repräsentationsansprüche zu erfüllen“, betont der Kunsthistoriker Robert Fleck. Die Entlassung der Malerei aus diesem traditionellen Status habe das Medium von Bildungen und externen (etwa gesellschaftlichen) Zwängen befreit. Die Malerei als „minderheitliches Medium“ besitze keine gesellschaftliche Begründung mehr, nur noch eine künstlerische. Diese neue Rolle kann durchaus als Chance gesehen werden, die in der Vielfalt und streckenweise Unabhängigkeit von den nunmehr dominierenden Bildtypen zum Ausdruck kommt. Der Maler kann nun frei entscheiden, in welches Verhältnis er sich mit seiner Kunst zur zeitgenössischen Bildwelt, zu anderen künstlerischen Medien und zur Tradition begibt. Bonells Malerei ist ein gutes Beispiel für diese These. Wobei der Künstler interessanterweise in beiden Welten zu Hause ist: in der Welt des wirkungsmächtigen Bildes und der malerischen Repräsentation durch zahlreiche Porträts von Menschen aus Politik, Kirche und Gesellschaft und in der Welt des freien malerischen Ausdrucks und der bewussten Abkehr von klassischer Figuration – bei gleichzeitiger Kenntnis der Kunstgeschichte und Tradition.

Nach Fleck würden gerade in der Malerei der letzten Zeit derart viele neue Dinge versucht, erprobt, sukzessive in Stellung gebracht und auch durchgesetzt, dass man heute von einem neuen Bildraum und den Umrissen eines neuen Paradigmas in der Malerei sprechen könne. Dies zeige sich insbesondere in einem Zwiegespräch zwischen der zweiten und dritten Dimension, einhergehend mit der Auflösung der zweidimensionalen Bildstruktur und einem Atmen und Pulsieren, oder – wie Fleck es nennt – einem „Floaten“ des Bildraumes. Und so sehen wir auch in Bonells Malereien einen selbstbestimmten und freien Umgang mit Bild- und Raumkoordinaten – der Künstler feiert die Malerei, ihre illusionistische Kraft ebenso wie das Spiel mit der abstrakten Form mit sich stetig verändernden Kompositionen und experimentiert mit tanzend schwebenden, sich neu erfindenden oder auflösenden Figurationen, eingebettet in einem vielschichtigen Farbraum, aus diesem hervorgegangen oder davon auch wieder verschlungen.

Die Malerei ist die große alte Dame der bildenden Kunst. Sie gehört – wie die Zeichnung – zu den unmittelbarsten Ausdrucksformen künstlerischer Kreativität und Vorstellungskraft. Ein Pinsel und eine Leinwand. Das genügt und eine ganze Welt kann entstehen. Malerei wie jene Bonells kann auch in unserer Zeit im Dialog mit der Gegenwart eigene Wege des Ausdrucks suchen und sich auf ihre Stärken berufen. Gerade heute, in unserer hochtechnisierten Welt, wächst wieder das Bedürfnis der Menschen nach gemalten Bildern, steigt die Nachfrage nach Authentizität und der Persönlichkeit des malenden Künstlers. In einer hektischen multimedialen Gesellschaft, in der wir täglich von tausenden digitalen Bildern berieselt werden, die morgen schon wieder nichtig sind, steigt die Sehnsucht nach einem analogen, statischen Bild, das über den Moment hinaus bestehen kann und eine Entschleunigung verheißt. In einer Welt, in der alles öffentlich gemacht wird, in der durch soziale Netzwerke und Medien gewollt und ungewollt jeder noch so private Winkel ausgeleuchtet wird, braucht es gemalte Bilder, die wieder geheimnisvoll und vieldeutig sind, in denen sich auch etwas Unbenennbares ansiedelt, das sich dem wörtlichen Zugriff entzieht.

Die Malerei Bonells: ein Festhalten der Vergänglichkeit und doch auch ein „Memento Mori“, denn alles Sein ist endlich. Oder transformiert sich, geht in eine andere Daseinsform über. „Nichts ist beständig“, so Paul Ernst, „Alles ist Auflösung und Neubildung“. Der greifbare Körper ist Bonell (im Gegensatz zu früheren Bildern) nicht mehr so wichtig, er hat neue Wege gefunden, die Zwänge und das Vergehen des Leibes, die Endlichkeit der Existenz Bild werden zu lassen. Metamorphose und Vergänglichkeit, Alter und Tod: sanfte Farben, die an den Herbst erinnern, verwaschene, sich auflösende Formen, die den Verwesungsprozess alles Irdischen versinnbildlichen. Wundervolle Zwischenwelten voller Sinnlichkeit und Schönheit.